"Interventionsketten bei unterschiedlichen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt
Die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände NRW begrüßt, dass das Land Entwürfe für Interventionsketten vorgelegt hat, um den Schutz für gewaltbetroffene Frauen zu verbessern. Gleichzeitig kritisieren die Kommunen deutlich, nicht frühzeitiger in den Prozess einbezogen worden zu sein und mahnen die Berücksichtigung etwaiger Kostenfolgen bei der Einführung neuer Standards ein. Im Folgenden lesen Sie den Text der Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft:
"Wir begrüßen, dass das Land Nordrhein-Westfalen den Schutz von Frauen vor Gewalt verbessern will und zu diesem Zweck Entwürfe für die Etablierung von Interventionsketten bei unterschiedlichen Gewaltformen vorgelegt hat. Auch aus unserer Sicht ist ein transparentes Zusammenwirken der verschiedenen Behörden und Institutionen die Basis für eine gute und fachliche Unterstützung der von Gewalt betroffenen Personen.
Im Einleitungstext der jeweiligen Interventionsketten wird die Aufgabe der 'Landeskoordinierungsstelle zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Männer und zur Stärkung des Opferschutzes' beschrieben. Diese sei insbesondere, einen behörden- und institutionenübergreifenden Erfahrungsaustausch zu organisieren und zu moderieren. Bedauerlicherweise hat ein solcher Erfahrungsaustausch in dieser Legislaturperiode mit den kommunalen Spitzenverbänden erst zweimal stattgefunden, nämlich am 23. und 25.03.2021. In diesen Terminen wurden die bereits ressortabgestimmten Entwürfe der Interventionsketten vorgestellt. Wir kritisieren deutlich, dass wir in diesen Prozess nicht wesentlich früher einbezogen worden sind, sondern nunmehr lediglich mit Arbeitsergebnissen konfrontiert werden, obwohl selbstredend auch kommunale Zuständigkeiten betroffen sind. Auch unterjährig haben wir trotz Rückfragen keine Informationen zu den Aufgaben und Ansprechpersonen der
Landeskoordinierungsstelle erhalten. Wir sehen hier sowohl mit Blick auf den Informationsfluss als auch auf ein partizipatives Vorgehen Verbesserungsbedarf.
Allgemeines zu den Interventionsketten:
- Da die Interventionsketten einen anzustrebenden Standard für Interventionsverfahren und -abläufe darstellen (Seite 1), möchten wir anregen, den Kinderschutz explizit in die Aufzählung der anzustrebenden Standards mit aufzunehmen. Das Ziel 'Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls' sollte in allen Interventionsketten deutlich betont werden, da die Hilfe, Beratung und Unterstützung von Erziehungsberechtigten neben dem Kinderschutz wesentliches Ziel des Jugendamtes ist und selbst im Fall der akuten Kindeswohlgefährdung im Rahmen der Hilfeplanung bestehen bleibt.
- Nicht nur die Polizei, sondern auch das Jugendamt/ die Jugendhilfe haben eine exponierte Stellung und Legitimationsfunktion in der Gefahrenabwehr und im Gewaltschutz. In Anbetracht der besonderen Garantenstellung und staatlichen Wächteramtsfunktion sollte das Jugendamt/Jugendhilfe deshalb auch in den tabellarischen Auflistungen der Interventionsketten aufgeführt werden. Nähere Konkretisierungen sollten dann bei den Zielen, den Standards und den notwendigen Rahmenbedingungen und Weiterentwicklungen aufgenommen werden.
- Um den soziodemografischen Ausgangsbedingungen in den Kommunen gerecht zu werden, sollten interkulturelle Aspekte in den Interventionsketten stärker berücksichtigt werden als in den Entwürfen vorgesehen. Diese sind sowohl für die Sachverhaltsaufklärung als auch für die Beweissicherung und Schutzmaßnahmen von entscheidender Bedeutung. Wir regen an, bei den Standards und Maßnahmen konkrete Empfehlungen und Verweise aufzunehmen, beispielsweise auf kultursensible Übersetzungshilfen bei der Erstvernehmung, Hinweise auf den Umgang mit ausländerrechtlichen Hürden (Aufhebung der Wohnsitzauflage/Residenzpflicht, Klärung der Kostenübernahme des Frauenhausaufenthalts).
- Eine geschlechtersensible Beratung/Befragung zu intimen Details möglichst in der Herkunftssprache haben sich in der kommunalen Praxis als erfolgreich erwiesen und sollten Erwähnung finden.
- In der Mitgliedschaft ist aufgefallen, dass die kommunalen Erziehungsberatungsstellen/psychologischen Beratungsstellen als niedrigschwellige und präventive Anlaufstellen nicht erwähnt sind. Wir möchten anregen, diese noch mit aufzunehmen, anstatt ausschließlich auf spezialisierte Anlaufstellen zu verweisen.
- Unklar bleibt, welche konkrete oder unterstützende Rolle dem Land bei der Umsetzung der Interventionsketten in der Praxis und der tatsächlichen Kooperation vor Ort zukommen soll.
Zu einzelnen Interventionsketten:
- Die Interventionskette für häusliche Gewalt beginnt bei der Polizei mit der Anzeigenaufnahme. Rückmeldungen aus der Mitgliedschaft weisen darauf hin, dass nach Erfahrung aus der kommunalen Praxis die Interventionskette nicht mit der Anzeige, sondern mit dem polizeilichen Akuteinsatz vor Ort beginnt. Dieser hat als Schlüsselmoment maßgeblichen Einfluss auf das weitere Geschehen. Auch bei angezeigten Fällen sollte die Interventionskette daher mit dem polizeilichen Akuteinsatz beginnen. Unter B. (nicht angezeigte Fälle) sollte der Eintrag 'kommunal geförderte Beratungsstellen für LSBTIQ*' aufgenommen werden. Für die bedarfsgerechte Versorgung sind die sechs landesgeförderten Beratungsstellen für LSBTIQ* bei weitem nicht ausreichend. Die Kommunen übernehmen daher in diesem Bereich eine wichtige Aufgabe im Rahmen ihrer Trägerförderung. Das Vorgenannte gilt auch für die Interventionskette 'bei sexualisierter Gewalt außerhalb von Partnerschaftsgewalt und Wohngemeinschaften'.
- Die Sozialämter und Jobcenter werden nicht in allen Entwürfen berücksichtigt. Wir regen an, dies anzupassen, da Frauen im Bezug von Transferleistungen sein können bzw. durch einen Aufenthalt im Frauenhaus kurzfristig in den Bezug von Sozialleistungen kommen können. Die Beschäftigten in den Leistungsbereichen sind als Kontaktpersonen anzusehen, die für diese Themen sensibilisiert werden sollten. Die Nennung fehlt zum Beispiel im Entwurf 'häusliche Gewalt'.
- Sofern in den Interventionsketten die Schulen adressiert sind, weisen wir darauf hin, dass diese nicht ausreichend und flächendeckend mit entsprechenden Beratungslehrkräfte ausgestattet sind. Sofern in den Interventionsketten die verbindliche Einführung von Schutzkonzepten genannt wird, begrüßen wir das ausdrücklich. Eine Umsetzung ist aus unserer Sicht ohne entsprechende Aufstockung von Personalressourcen kaum möglich.
- Aus Respekt vor den Opfern und der Gefahr weiterer Stigmatisierung regen wir abschließend an, in der betreffenden Interventionskette nicht von 'Genitalverstümmelung'*, sondern von Genitalbeschneidung zu sprechen.
- Bei der 'Interventionskette bei sexualisierter Gewalt außerhalb von Partnerschaftsgewalt und Wohngemeinschaften' kommt die Steuerungsverantwortung des Jugendamtes für Hilfen zur Erziehung, Schutzauftrag und Inobhutnahme zu kurz. Es wird suggeriert, dass dies in der Verantwortlichkeit von Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt läge. Wird die Unterbringung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen notwendig liegt die Verantwortung aber beim Jugendamt. Das Jugendamt ist zur selbständigen Überprüfung der Gründe verpflichtet. Hier sind insbesondere die hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe § 8a, §§ 27, 36, 36a, § 42 SGB VIII nicht benannt. Mindestens müsste in dieser Interventionskette die Struktur der Kinder und Jugendhilfe analog der Interventionskette Häusliche Gewalt auf Seite 5 aufgeführt werden.
- Als notwendige Rahmenbedingungen und zur Weiterentwicklung werden verschiedene Maßnahmen benannt: So wird in einigen Entwürfen bei den Sozialämtern und Jobcentern als notwendige Maßnahme die Sensibilisierung von Mitarbeitenden (zum Beispiel Erkennen von Alarmzeichen) oder auch Vermittlung von Hintergrundinformationen zu den Themen wie Menschenhandel etc. genannt. Hier stellt sich die Frage, welche Hilfen das Land zur konkreten kommunalen Umsetzung anbieten kann, zum Beispiel Fortbildungen und Schulungen für Mitarbeitende zu den genannten Themen. Gerade für die Beschäftigten in den Sozialämtern und Jobcentern aber auch im Ausländeramt wären solche Schulungen sehr hilfreich.
- Im Entwurf 'Menschenhandel' werden regionale Kooperationen erwähnt. Auch hier bleibt unklar, welche Rolle dem Land dabei zukommen soll.
Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass - wenn das Land durch die Etablierung von Interventionsketten bei unterschiedlichen Gewaltformen (neue) kommunale Standards setzen möchte – mögliche Folgekosten auf kommunaler Seite durch das Land getragen werden sollten. Die Etablierung der genannten Interventionsketten sollte daher mit einer Evaluation kommunaler Folgekosten verbunden werden.