Hilfe für Geflüchtete
17.10.2022

"Wir brauchen vom Bund eine klare Handschrift bei Erfassung, Verteilung und Unterstützung"

Städtetags-Vorsitzender Thomas Kufen im Interview mit der Welt

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine und Migranten über die Balkanroute – bei der Unterbringung der Geflüchteten kommen die Städte an die Belastungsgrenze. Der Vorsitzende des Städtetages NRW und Oberbürgermeister der Stadt Essen, Thomas Kufen, sprach darüber in einem Interview mit der Welt.

WELT: Herr Kufen, wie ist in Essen die aktuelle Unterbringungssituation für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine?

Thomas Kufen: Da geht es uns ähnlich wie anderen Städten. Die Reservetank-Leuchte ist knallrot. Wir haben etwa 6800 Menschen aus der Ukraine erfasst, davon sind 2300 minderjährig. Zwei Drittel, also über 4200 Personen, sind zunächst privat untergekommen. Inzwischen konnte der Großteil bereits in Wohnungen vermittelt werden, aber mehrere Hundert Personen leben noch bei Freunden und Bekannten. Je länger dieser Krieg anhält, desto unsicherer wird es, wie lange sie dort noch bleiben können. Wir haben in den letzten Monaten weitere Unterkünfte aktiviert und sogar ganze Hotels angemietet. Wir stoßen an unsere Kapazitätsgrenzen.

WELT: Müssen Sie auf Turnhallen zurückgreifen?

Kufen: Wir haben bisher noch keine Turnhalle belegt. Andere Städte mussten das bereits.

Flüchtlinge aus der Ukraine sind bundesweit sehr ungleich verteilt. Es zieht die Menschen vor allem in die großen Städte.

In Essen haben wir in einem halben Jahr mehr Menschen aufgenommen als im Jahr 2015. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften, die Anspruch auf soziale Leistungen haben, steigt. Das geht den anderen Kommunen genauso. Insgesamt kann ich aber sagen, dass die Stimmung in der Stadtgesellschaft eine andere, bessere ist als 2015/2016.

WELT: Woran liegt das?

Kufen: Das hat zwei Gründe: Durch die überwiegend private Unterbringung haben wir in Essen bisher keine Diskussion, wo große Flüchtlingsunterkünfte in den Stadtteilen errichtet werden müssen. Allerdings kann das von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein. In allen Kommunen gilt: Es ist etwas ganz anderes, wenn, wie jetzt, vor allem Frauen mit ihren Kindern vor dem Krieg fliehen. 2015/16 kamen vor allem junge Männer aus dem Maghreb zu uns. Das macht im öffentlichen Bild und in der Akzeptanz einen großen Unterschied. Russlands Krieg gegen die Ukraine, der mitten in Europa stattfindet, geht den Menschen viel näher als andere Konflikte in der Welt. Wir haben in den Kommunen trotzdem große Sorgen vor dem Winter. Jeder neue Angriff führt zu neuen Flüchtlingsbewegungen. Das haben wir diese Woche sofort gemerkt, als russische Raketen in Kiew und anderen ukrainischen Städten eingeschlagen sind.

WELT: Es kommen zusätzlich Migranten über die Balkanroute und Serbien nach Europa. Merken Sie das in Essen?

Kufen: Wir rechnen in Nordrhein-Westfalen mit 25 Prozent mehr Flüchtlingen aus anderen Ländern als im vergangenen Jahr. Und die Flüchtlingszahlen steigen bereits. Wladimir Putin setzt nicht nur Energie als Waffe gegen den Westen ein. Es gibt immer mehr Hinweise, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern instrumentalisiert werden und über die Balkanroute geleitet werden. Diese Menschen kommen aus Syrien, Afghanistan, Irak.

WELT: Sehen Sie Gefahren für die Akzeptanz in der Bevölkerung?

Kufen: Die wirtschaftliche Entwicklung für die hiesige Bevölkerung ist von großer Unsicherheit geprägt. Alle haben Sorge vor der nächsten Stromrechnung. Beim Einkaufen sehen sie, wie viel weniger sie für das gleiche Geld bekommen. Es steigen die Preise, die Zinsen und die Inflation. Dazu kommt noch eine Corona-Herbstwelle. Wir haben es hier mit einer regelrechten Multikrise zu tun. Das treibt viele Menschen um. Die Situation ist daher schwieriger als 2015/2016.

WELT: Welche Hinweise gibt es in Essen und den anderen NRW-Großstädten darauf, dass ein Teil der Ukraine-Flüchtlinge "Sozialtourismus" betreibt, wie CDU-Parteichef Friedrich Merz das formulierte?

Kufen: Dazu haben wir keine Erkenntnisse.

Wir müssen den Menschen, die vor den Grauen des Krieges fliehen, helfen.

Die Menschen, die aus der Ukraine kommen, sind sehr geduldig, nicht fordernd. Sie sind sehr dankbar, dass ihnen geholfen wird.

WELT: Es gibt alarmierende Nachrichten über vereitelte Anschläge auf Unterkünfte in Thüringen. Bei einer prorussischen Demo in Leipzig wurden Ukrainer beschimpft. Befürchten Sie, dass sich Unmut breitmacht?

Kufen: Die Stimmung ist angespannt. Deshalb ist es wichtig, dass der Staat Handlungsfähigkeit beweist. Die Bundesregierung muss in der Krise klar kommunizieren und konkrete Lösungen anbieten. Wir haben auf Bundesebene keine klare Botschaft in dieser Krisenzeit. Man kann über Angela Merkel und ihr „Wir schaffen das“ die Nase rümpfen. Aber irgendeine Form von "Wir schaffen das" würde ich mir auch von dieser Bundesregierung wünschen.

Die Kommunen brauchen Orientierung in der Krise und die Zuversicht, dass an dauerhaften Lösungen gearbeitet wird. Sonst spielen wir Extremisten in die Hände.

WELT: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich mit kommunalen Vertretern getroffen und weitere Hilfen zugesagt. Die Bundesregierung will zudem Grenzkontrollen verlängern. Reicht das?

Kufen: Ich habe das Gefühl, dass das Thema erst jetzt so richtig in der Bundesregierung ankommen ist. Ein Treffen mit der Bundesinnenministerin ist für mich nur die zweitbeste Lösung. Es braucht einen Flüchtlingsgipfel mit dem Bundeskanzler und Konzepte auf europäischer Ebene. Auch weil in der Türkei Hunderttausende Menschen aus Syrien auf gepackten Koffern sitzen.

WELT: Der Bund hat bisher zwei Milliarden Euro für die Unterbringung von Ukraine-Flüchtlingen bereitgestellt. Was müsste noch getan werden?

Kufen: Die Summe ist relativ, denn die Belastung bei der Unterbringung ist sehr ungleich verteilt. Das gilt auch für die Verteilung innerhalb einer Stadt. Das trifft ganz oft wieder die Stadtteile, die ohnehin schon mit sozialen Problemen zu kämpfen haben.

Wir brauchen eine gerechtere Verteilung. Wir brauchen vom Bund eine klare Handschrift bei Erfassung, Verteilung und Unterstützung.

Es muss an den Grenzen vermittelt werden, dass es keinen Sinn macht, in eine bestimmte Stadt zu gehen, weil es dort keine freie Wohnung, keine Plätze in den Schulen oder Kitas mehr gibt.

Manche Kommunen im Ballungsraum sind am Rande der Erschöpfung. Wir brauchen verlässliche Prognosen, wie es weitergeht, um Krisenplanung machen zu können. Die Kommunen fahren bisher nur auf Sicht und müssen kurzfristig reagieren.

WELT: Unter den Flüchtlingen sind viele Minderjährige. Wie kommen die Kitas und Schulen damit zurecht?

Kufen: Fast alle Kommunen haben Probleme, die vielen zusätzlichen Plätze bereitzustellen. Es gelingt uns in Essen noch ganz gut, Kinder auf Grundschulen zu verteilen, aber bei weiterführenden Schulen können wir schon nicht mehr wohnortnah vermitteln. In anderen Städten gibt es Wartezeiten von mehreren Monaten, ehe Kinder eine Schule besuchen können. Bei der Kita ist es genauso.

Wie die Bundesregierung in dieser Zeit die Förderung von "Sprach-Kitas" einstellen kann, macht mich fassungslos. In Essen gibt es aktuell 85 "Sprach-Kitas", die wir dringend brauchen. Es soll zwar ein Nachfolgekonzept geben, aber noch ist nicht klar, wie das aussieht. Wir befürchten, dass sich das Personal in der Zwischenzeit etwas anderes sucht.

WELT: Noch ein Rückblick auf 2015/2016: Wie haben sich die Menschen, die damals gekommen sind, hier integriert?

Kufen: Ein Drittel in Essen ist gut angekommen. Die besser Ausgebildeten haben sich schnell zurechtgefunden. Andere nehmen die freigewordenen Stellen im Servicebereich an, ob in der Gastronomie oder bei Lieferdiensten. Zwei Drittel aber tun sich noch schwer, auch mit der Sprache. Viele beziehen soziale Hilfen. Es ist für uns schwierig, mit ihnen Kontakt zu halten und sie zu qualifizieren. Anders als bei anderen Migrantengruppen gibt es kaum organisierte Vereine oder Verbände, die Ansprechpartner wären.

Mit freundlicher Genehmigung der Welt, www.welt.de